Neben der Veränderung von Strukturen des Bildungswesens ging es in den Reformdiskussionen der späten 1960er und frühen 1970er auch um eine inhaltliche Erneuerung von Lehrerbildung, Schule und Unterricht.

Im Sinne des Mottos der sozialliberalen Bundesregierung „Mehr Demokratie wagen“ sollte vor allem ein neues, sozialwissenschaftliches Integrationsfach, die Gesellschaftslehre, zur Förderung und Sicherung der Demokratie beitragen. Während Gesellschaftslehre als Unterrichtsfach an den hessischen Gesamtschulen eingeführt wurde, sollten in Kassel erstmals in der Bundesrepublik Lehrer:innen für das neue Unterrichtsfach in einem integrativen Studiengang ausgebildet werden. Soziologie, Politologie, Geschichte, Geographie und auch Philosophie sollten integrativ verbunden werden und Lehrer:innen (und somit auch Schüler:innen) zur umfassenden Analyse der Gesellschaft, zur Einsicht in Herrschaft- und Ungleichheitsstrukturen sowie zur Erkenntnis von Veränderungsmöglichkeiten befähigt werden, um damit die Artikulation eigener Interessen, politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu fördern.

Die in dem hier präsentierten Entwurf einer Studienordnung (1973) formulierten Ziele und Inhalte des Studiums der Gesellschaftslehre sorgten hochschulintern wie -extern für Kontroversen. Vor allem die konservative Opposition warf dem Studiengang, wie auch dem erziehungs- und gesellschaftswissenschaftlichen Kernstudium aller Lehramtsstudent:innen in Kassel, Indoktrination vor. Wie schon die schulischen Rahmenrichtlinien für das Unterrichtsfach Gesellschaftslehre wurde auch hier der Vorwurf des Neomarxismus laut, Fachgesellschaften forderten die Beibehaltung isolierter Teilfächer und -studiengänge.

Die Erprobung eines integrativen Studiengangs Gesellschaftslehre blieb auf Kassel beschränkt und fand 1990 ein Ende, auch aufgrund interner Kontroversen der am Studiengang beteiligten Fächer, vor allem aber auf äußeren Druck hin. Anschließend wurden in Kassel Lehrer:innen in jeweils eigenen Studiengängen für die Unterrichtsfächer Geschichte, Geographie sowie Sozialkunde ausgebildet.

Der Beitrag aus der Sendereihe Hochschulreport des Hessischen Rundfunks berichtete im Frühjahr 1976 über die neuen integrierten Diplomstudiengänge und ihre Besonderheiten wie Projektstudium und Berufspraktische Studiensemester. Sowohl von Seiten der Student:innen als auch von Vertretern der Wirtschaft fing der Beitrag die Unsicherheit über die Wertigkeit und Qualität der künftigen Ausbildung sowie der geplanten Abschlüsse an der Gesamthochschule ein.

Der SWR-Hörfunkbeitrag entstand unter dem Eindruck des 1985 verabschiedeten neuen Hochschulrahmengesetzes, in dem die Abschnitte über die Gesamthochschule als künftiges Leitmodell der Entwicklung des deutschen Hochschulwesens gestrichen wurden. Schon bei der Entstehung des vorigen Hochschulrahmengesetzes 1976 war das Modell Gesamthochschule längst im Abseits, sowohl in der öffentlichen Dokumentation als auch auf höchster politischer Ebene.

Der insgesamt einstündige Beitrag über die Gesamthochschule Kassel berichtete über die integrierten Studiengänge, Weiterbildungsangebote und Forschung an der GhK.

Hier muss man wirklich wollen: Studium und Berufsausbildung in einem verlangen den Student:innen im Praxisverbund so einiges ab, locken aber auch mit besten Jobperspektiven. Das ist anscheinend attraktiv. Inzwischen wird das Studium im Praxisverbund (StiP) in acht Studiengängen und in Kooperation mit zahlreichen Unternehmen angeboten.

Der Gründungsbeirat wurde als Beratungsorgan eingesetzt und umfasste 21 Mitglieder. Neben den Vertretern der Hochschullehrer, Assistenten und Student:innen von den bestehenden Universitäten waren Vertreter der in Kassel ansässigen Einrichtungen, der Oberbürgermeister, der Vorsitzende des „Arbeitskreises Universität Kassel“ und der Leiter der AG Standortforschung an der TU Hannover, Clemens Geißler, in dem Gründungsbeirat versammelt.

Schon in der ersten Sitzung gab es deutliche Kritik der Student:innen und der Assistenten an den Aufgaben und Rechten des Gremiums. Mit einer informellen Beraterrolle wolle man sich nicht zufriedengeben, die frühere Omnipotenz der Ordinarien dürfe nicht durch die des Kultusministers ersetzt werden. Aus Sicht des Kultusministers war es im Sinne einer schnellen Ausführung der Planungs- und Organisationsarbeiten angebracht, wenn die Verwaltungsgeschäfte von ihm selbst geführt würden. Zum Vorsitzenden wurde der an der TU Darmstadt lehrende Prof. Dr. Heinz Schwarz ernannt.

Der Gründungsbeirat befasste sich unter anderem mit Fragen des Standortes, der Integration der Einrichtungen, der Besetzung und des Ablaufs der Berufungsverfahren sowie der Lehrerbildung. Für die Zusammenarbeit mit der dem Kultusminister unterstellten Projektgruppe gab es keine Vorgaben. Der Austausch zwischen beiden war schwierig.

Nach 24 Sitzungen wurde der Gründungsbeirat im Februar 1972 in seiner damaligen Besetzung aufgelöst und fortan nur noch mit Mitgliedern der neuen Hochschule besetzt. Zwei Mitglieder des Gründungsbeirates waren später in anderen Positionen an der Gesamthochschule Kassel tätig: Prof. Franz Neumann (1935–2019), späterer Präsident der GhK (1981–1989), und Dietfried Krause-Vilmar (Jg. 1939), später Professor für Erziehungswissenschaft in Kassel (1975–2005), waren als Assistentenvertreter im Gründungsbeirat.

Die Berufspraktischen Studien (BPS) waren das Kernstück der integrierten Diplomstudiengänge. Hier sollte die zentrale Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis umgesetzt werden. Das Schema zeigt, dass die BPS, anders als unbegleitete Praktika an anderen Hochschulen, durch Begleitseminare von Lehrkräften der Hochschule betreut wurden.

In einem für das Projekt Vox Paedagogica der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung aufgenommenen Interview berichtet der Kasseler Hochschullehrer Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Jg. 1939) über seinen beruflichen Werdegang. In diesem Ausschnitt schildert er seine Sicht auf die Wochen vor dem Beginn des Lehrbetriebs an der noch nicht eröffneten Gesamthochschule Kassel. Im Vorschaubild ist das Deckblatt des ersten Vorlesungsverzeichnisses der GhK abgebildet. Über das Lehrangebot der „Stufenlehrerausbildung“ sowie über die Seminare, Vorlesungen, Projektseminare in allen Studiengängen der nächsten Jahrzehnte können Sie sich hier informieren.

Der Mathematiker Prof. Dr. Klaus Barner (Jg. 1934) gehörte zu den 25 Hochschullehrer:innen, die zum Wintersemester 1971 neu an die Gesamthochschule berufen wurden. Er kommentiert die Idee, in Kassel eine integrierte Gesamthochschule zu errichten.

„Es gilt das gesprochene Wort.“ Mit diesem Hinweis wurden und werden die Redemanuskripte im politischen Raum vorab an Journalist:innen verteilt. Wie weit der Kultusminister von dem vorliegenden Text abwich, lässt sich nicht mehr feststellen.

Der an der Goethe-Universität Frankfurt lehrende Soziologe Prof. Dr. Ludwig von Friedeburg (1924–2010) war von 1969 bis 1974 hessischer Kultusminister.

Da den Student:innen bei der offiziellen Eröffnung keine Redezeit eingeräumt wurde, verfassten sie ihre äußerst kritische Stellungnahme schriftlich.