1990

Zu Beginn des neuen Jahrzehnts begann eine umfassende Neupositionierung der Gesamthochschule Kassel, die unter anderem mit dem zuerst präsentierten Dokument – einer Befragung zur Europäisierung des Studienangebots – eingeleitet wurde. War man in den 1970er Jahren damit beschäftigt gewesen, Vorreiter eines neuen Organisationsmodells des deutschen Hochschulwesens zu werden, kämpfte man in den frühen 1980ern darum, Gesamthochschule zu bleiben. In der zweiten Hälfte der 1980er stand die Gesamthochschule nach außen hin weitgehend allein als „Gänseblümchen“ unter den „Orchideen“, wie der Soziologe Hans Immler die Situation der GhK im deutschen Hochschulsystem beschrieb. Intern stritten unterschiedliche Lager, die quer durch die Statusgruppen verliefen, um die Weiterentwicklung der Hochschule, um Wissenschaftlichkeit und Praxisbezug, um politische Parteinahme und Forschungsfreiheit. Angesichts der sich anbahnenden stärkeren Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft sowie der Öffnung der innerdeutschen und innereuropäischen Grenze erkannte die Gesamthochschule ihren strategischen Vorteil. Als weitgehend einzige deutsche Hochschule mit international vergleichbaren Studienstrukturen und als neue Mitte Europas bot sich die Chance, internationale Orientierung zu einer zentralen Leitlinie der Hochschulentwicklung auszubauen.

In dem zukünftig von Offenheit und Vielfalt geprägten europäischen Hochschulraum könne und müsse die Gesamthochschule, so die Annahme, ihr eigenes Profil ausbauen und schärfen. Schon 1989/90 wurde durch die Kooperation mit Hochschulen in Jaroslawl die Liste der Partneruniversitäten erweitert. In den beiden Jubiläen – traditionell Momente der Selbstbestimmung und Außendarstellung – wurde 1991 und 1996 die neue Orientierung präsentiert und gemeinsam mit den internationalen Partnern vertieft. Erst nachdem die deutschen Universitäten das gestufte Studienmodell mit dem Bachelor und Master Anfang der 2000er einführten und die Kasseler Hochschule den Namensteil Gesamthochschule ablegte, wurde das deutsche Universitätssystem wieder zum zentralen Referenzpunkt der Hochschulentwicklung. Dass das Jahr 1990 insofern eine Zeit darstellte, in der der weitere Weg der Gesamthochschule noch im Unklaren war, verdeutlichen die Ergebnisse einer Studie über das Image der GhK in der Region.

Im Unklaren war die weitere Entwicklung auch, weil der Ausbau der Hochschule noch immer nicht abgeschlossen war. Nicht nur die Regionalzeitung Hessische/Niedersächsische Allgemeine (HNA) fragte: „Wann wird fertig gegründet?“ Das Planungskonzept – 1983 für den Besuch des Wissenschaftsrates erstellt – sah einen Ausbau der Hochschule auf 9.000 Studienplätze und 1.671 Stellen vor. Mit den vorhandenen 1.554 Stellen mussten im Wintersemester 1990/91 bereits 14.000 Student:innen versorgt werden. Die ausgewählten Statistiken geben Auskunft über die Verteilung von Student:innen und Personal auf die Fachbereiche sowie über die Geschlechterverhältnisse und die Verteilung auf Besoldungs- und Tarifgruppen. Mit dem Bau der seit langem erwarteten Technikgebäude an der Kurt-Wolters-Straße für 100 Millionen DM und in den Mauern der alten Henschelhalle K 13 wurde erst im Sommer des Jahres begonnen.

Die gravierende Situation, die veränderte geopolitische Lage und eine bevorstehende Landtagswahl, zu der alle Parteien eine Stärkung Nordhessens versprechen würden, waren für die Hochschule Anlass genug, um einen neuen Entwicklungsplan zu erarbeiten und Ende des Jahres zu verabschieden. Das Konzept „GhK 2002“ sah den Ausbau der Hochschule auf 12.000 Studienplätze vor, bilanzierte Flächenbestände und -bedarfe, lotete Perspektiven der baulichen Erweiterung aus und rechnete dabei mit einem Investitionsvolumen von 300 bis 500 Millionen DM. Der personelle Ausbau, auch mit mehr Stellen für den wissenschaftlichen Mittelbau, sollte weniger auf die Vervollständigung der fachlichen Breite zielen, sondern so angelegt werden, dass in allen vorhandenen Fachrichtungen einzelne Schwerpunktsetzungen, insbesondere in der Forschung, möglich sind. Die Einrichtung des ersten Graduiertenkollegs zeigte, dass die Forschung in einigen Bereichen bereits wettbewerbsfähig war. Die Hochschule bekam in diesem Jahr erstmals zwei Vizepräsident:innen: Dr. Gabriele Gorzka, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Wissenschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung, und Physiker Prof. Dr. Burkhard Fricke übten ihre Ämter bis 1994 aus.