1977
Ein weiterer Schritt in Richtung einer vollwertigen wissenschaftlichen Hochschule gelang der Gesamthochschule Kassel in diesem Jahr: Das Kultusministerium genehmigte die von allen Organisationseinheiten gemeinsam erarbeitete Promotionsordnung.
Die Wertigkeit der Hochschule wurde indes vonseiten der CDU in der Öffentlichkeit infrage gestellt. Ob die Arbeit der Bibliothek, der Verlauf der Modellversuche oder die in Kassel erworbenen Abschlüsse, fast nichts blieb im anstehenden Landtagswahlkampf von der konservativen Kritik verschont. Die Kasseler Hochschule sei eine Gründung ohne Konzept gewesen, die nur durch Umwandlung in eine Universität, einen Fachhochschulbereich und eine Kunsthochschule auf den richtigen Weg gebracht werden könne. Gesamthochschule, Kultusministerium und SPD hielten dagegen. Die Landtagsfraktion der CDU legte für die anstehende Novellierung des Hochschulrechts aufgrund des neuen Hochschulrahmengesetzes auf Bundesebene bereits die entsprechenden Regelungen vor, falls ein Wahlsieg gelänge. In der Diskussion um die Neuordnung der hessischen Hochschulgesetze zeichnete sich ab, dass es kein eigenes Gesamthochschulgesetz geben und die Gesamthochschule Kassel in das Universitätsgesetz eingeordnet werden würde. So übertitelte die HNA ein Interview mit dem Gründungspräsidenten mit „Stirbt das Reformmodell auf Raten? Auf dem Weg zur klassischen Uni“. Von Weizsäcker forderte eine Absicherung der Kasseler Studienreformmodelle in den neuen Gesetzen und auch die Student:innen trieb die Ungewissheit über den Fortgang der Reformhochschule um. Unsicherheit über ihren Status und ihre gegenwärtige Entwicklung brachten die künstlerischen Fachbereiche zum Ausdruck, die das 200-jährige Jubiläum der Kunsthochschule mit einer „Kritischen Festschrift“ begingen und die Integration in die Gesamthochschule hinterfragten.
Zugesichert bekam die Kasseler Hochschule derweil die Zuweisung neuer Stellen – auf Kosten der anderen hessischen Universitäten, denn die Haushaltslage des Landes verschlechterte sich. Die Gießener Universität wollte dies nicht hinnehmen.
Die Gesamthochschule begab sich trotz der unsicheren Zukunft weiter auf die Suche nach Alternativen. Schon Ende des Vorjahres eröffnete unter prominenter Beteiligung die Ausstellung „Umdenken – Umschwenken“ an der Hochschule, die alternative Wege aus den Zwängen der großtechnischen Zivilisation suchte. Lehramtsstudent:innen suchten Alternativen zum bestehenden System Schule hingegen im Ausland und begaben sich auf „alternative Wallfahrten“ in ein Mekka der Alternativschulbewegung. An Alternativen zur rationellen Energienutzung wurde in einer Arbeitsgruppe „Angepasste Technologie“ gearbeitet, die 1977 als eine von sechs interdisziplinären Forschungsgemeinschaften eingerichtet wurde. Neue Wege zu gehen, das versuchte auch ein künstlerisches Projekt, das in großflächigen Plakaten ein soziofotografisches Diagramm eines Stadtteils darbieten wollte. Der gewählte Stadtteil war die Nordstadt und aufgehängt wurden die Plakate an den Hallenwänden der ehemaligen Henschelfabrik, dem künftigen Hauptstandort der Gesamthochschule. Die Aktion sollte damit ein Zeichen sein, dass die Gesamthochschule sich dem Stadtteil, seinen Menschen und seinen Problemen nähert. Gebaut wurde derweil zunächst noch am neuen alten Standort. Die ersten Abschnitte des dritten Teils des Aufbau- und Verfügungszentrums in Oberzwehren wurden eröffnet. Endlich bekam der Standort nun eine große Mensa.