1975

Ein weiteres Jahr der Reform: Mit dem Kasseler Modell der integrierten Diplomstudiengänge war das Kernstück der Gesamthochschulidee einsatzbereit. Studiengänge, die Bewerber:innen mit Abitur wie mit Fachhochschulreife zulassen, die Theorie- und Praxisstudium verknüpfen und die es ermöglichen, einen ersten, in kürzerer Zeit studierbaren berufsqualifizierenden Studienabschluss (Diplom I) zu erwerben oder nach einer zweiten, stärker wissenschaftlich orientierten Studienstufe ein dem universitären Diplom gleichwertiges Diplom II zu erlangen. Ein Studiengang, der fachhochschulische, praxisorientierte Kurzstudiengänge und wissenschaftlich orientierte universitäre Langstudiengänge kombiniert. Freilich, es war zunächst ein Modell, für das die Reformarbeit erst in der Umsetzung wirklich geleistet werden musste. Schon zum Wintersemester 1974/75 startete der Diplomstudiengang für soziale Berufe, nun die Diplomstudiengänge Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung sowie Konstruktions- und Fertigungstechnik (Maschinenbau und Bauingenieurwesen). Die integrierten Studiengänge waren in ihrer Form wie auch in ihren Inhalten etwas Neues im deutschen Hochschulwesen und wurden daher zunächst kritisch betrachtet, wie ein Fernsehbeitrag des Hessischen Rundfunks berichtet.

Während die Reformen auf der Ebene des Studiums mit großen Schritten vorangingen, stockte die hochschulpolitische Weiterentwicklung über weite Teile des Jahres. Nach dem Wechsel von Gründungspräsidentin Rüdiger ins Kultusministerium sah die Rechtsordnung der Gesamthochschule die Ernennung eines Nachfolgers durch den Kultusminister im Einvernehmen mit dem Gründungsbeirat vor. Der Gründungsbeirat veranstaltete eine offizielle Bewerbung und ein Hearing. Die Mehrheit aus den gewerkschaftlichen Gruppen GEW, ÖTV und Student:innen legte sich schnell auf den heimischen GEW-Kandidaten Hans Brinckmann fest. Der Kultusminister verlangte vom Gründungsbeirat wiederholt eine Liste mit drei möglichen Kandidaten für das Amt, was der Gründungsbeirat wiederholt verweigerte. Das Kultusministerium wollte eine Person, die die Hochschule nach innen wie nach außen repräsentieren kann, die innere Gegensätze der Hochschule integrierend überwindet. Mit der Wahl der Person solle ein Zeichen gesetzt werden, so Staatssekretärin Rüdiger, jenes, dass die Gesamthochschule Kassel ihren Reformanspruch behauptet. Das Kultusministerium hatte offenbar schon die geeignete Person im Blick: Nachdem es zu keiner Einigung mit dem Gründungsbeirat kam, schlug der Kultusminister Ernst-Ulrich von Weizsäcker, der sich in der Gesamthochschuldebatte mit seinem Entwurf für Baukastenstudium einen Namen gemacht hatte, vor. Krollmann überließ den Mitgliedern des Gründungsbeirats lediglich die Entscheidung, ob sie von Weizsäcker wählen oder er von Wiesbaden aus entsendet wird. Den Student:innen passte das Verfahren überhaupt nicht. Hubert Sauer, der die Hochschule während des Jahres als Regierungsrat aus dem Kultusministerium kommissarisch geleitet hatte, wurde nun zum Kanzler ernannt.

Warum das Kultusministerium eine starke Persönlichkeit an der Spitze ihres Reformprojektes wollte, lässt der Blick auf die bundespolitische Ebene erahnen. Von der sozialliberalen Koalition in Bonn war die Gesamthochschule als Regelmodell zunächst gefördert worden, nun empfahl ein internes Schreiben des Bundesbildungsministeriums das „stillschweigende Abrücken“ von diesem Vorhaben.

Ein weiteres zentrales Thema zog sich hin. In den Koalitionsverhandlungen 1974 für die neue SPD-FDP-Landesregierung wurde auf politischer Ebene die alte Henschelei am Holländischen Platz als künftiger Hauptstandort der Gesamthochschule festgelegt. Im November wurde der Kaufvertrag unterschrieben, für 19 Millionen DM kam das Gelände samt Gebäuden in den Besitz der Hochschule. Eine der ersten Einrichtungen, die schon bald dort einziehen sollte, war das Hochschulrechenzentrum, das bisher im Wesentlichen nur von einzelnen Fächern genutzt wurde, wie ein Blick in die Rechenvorgänge an der Hochschule im Jahr 1975 zeigt.