1974

„War die Vision ein Trugbild?“ Das fragte sich nicht nur die Lokalpresse. Drei Jahre nach der Eröffnung – für Student:innen eine lange Zeit, für den Aufbau eines neuen Reformmodells des Hochschulwesens ein Wimpernschlag – verglichen die Autor:innen eines AStA-Heftes die 1971 von von Friedeburg genannten Ziele der Neugründung mit dem Erreichten. Ihr Urteil: vernichtend. Die Ziele seien nicht nur nicht erreicht, sondern die Vorhaben hätten sich ins Gegenteil verkehrt. Bundesweit war die Reformeuphorie verflogen, die bildungspolitische Stimmung getrübt und der finanzielle Spielraum kleiner geworden. Die Beteiligten und Beobachter:innen mussten feststellen, dass die zügige Durchsetzbarkeit großer Reformvorhaben überschätzt, Widerstände unterschätzt wurden. Institutionen mit gewachsenem Eigenverständnis, beispielsweise zwei unterschiedliche Traditionen des Architekturstudiums, ließen sich nicht geräuschlos integrieren. Besoldungsrechtliche Regelungen für die Einstellung von Absolvent:innen der geplanten Studiengänge in den öffentlichen Dienst, die an Studiendauer und Studienniveau gekoppelt sind, setzten den Vorhaben Grenzen. Das zeigte sich schon daran, dass es im Sommersemester 1974 noch immer keine einheitlichen Semesterzeiten gab.

In Bereichen, die aus den fachhochschulischen Vorgängereinrichtungen hervorgegangen waren, begann das Semester – wegen formaler Vorgaben an Pflichtstundenzahlen zur Anerkennung der Abschlüsse im Ingenieurbereich – im März, im neugegründeten universitären Bereich im April. Die Studierenden riefen zum Boykott auf. Am deutlichsten zeigte sich die verhinderte Integration an der Prüfungsordnung, die vom Kultusministerium für die Kasseler Stufenlehrerausbildung vorgelegt wurde. Wie bisher üblich, sah sie für die künftigen Lehrer:innen in der Grundstufe und der Mittelstufe ein sechssemestriges Studium vor, für Oberstufenlehrer:innen eines von acht Semestern. Das Kasseler Modell, das von einer gleichwertigen, gleich langen und nur nach Stufen differenzierten Ausbildung aller Lehrer:innen über acht Studiensemester ausging, war damit zwar nicht tot, aber erheblich eingeschränkt. Die Rückschläge von außen spiegelten sich in der Hochschule selbst. Ernüchterung und Konflikt machten sich breit. Der Rücktritt von 10 der 14 Professoren im Gründungsbeirat lag nicht nur in der kurzen Beratungszeit eines vorgelegten Gesamthochschulgesetzes begründet, wie Gründungspräsidentin Rüdiger in einem Radiointerview berichtete. Es ging auch um die Inhalte und das Zustandekommen des Entwurfs, der die künftige Gestalt der Hochschule regeln sollte.

Es kam zur Blockbildung zwischen jenen, denen der Entwurf nicht weit genug ging, und jenen, denen er zu weit ging. Die GEW-Fraktion wusste die Mehrheit der Fachhochschullehrer:innen hinter sich, die in der künftigen Gesamthochschule ein eigenes Profil erhalten wollten. Die unabhängige „GhK Liste“ vertrat die Mehrheit der universitären Hochschullehrer:innen der Organisationseinheiten I, II und III. Schließlich ging es auch um die Rolle der Gründungspräsidentin und der Projektgruppe bei der Entstehung des Entwurfs. Beide waren vom Kultusminister eingesetzt worden und wurden nicht von allen als Vertretung der Interessen der Hochschule wahrgenommen. Anders als im Radiointerview behauptet, verließ Vera Rüdiger Kassel noch im Laufe des Jahres und wechselte als Staatssekretärin ins Kultusministerium. Sie rechtfertigte ihren Weggang damit, sich von Wiesbaden aus auf höherer, bildungs- und fiskalpolitischer Ebene für Rahmenbedingungen einzusetzen, die die Fortführung der Reformen erlauben. Das Jahr brachte aber auch Positives: eine bundesweit einmalige Mitschauanlage.