1973
Die Gesamthochschule nahm in diesem Jahr weiter Gestalt an. Das AVZ II wurde im Herbst eröffnet, statt eines Flugblattes erschien ein eigenes Hochschulmagazin und die Reformarbeit wurde langsam in konkrete Formen gegossen. Im Sommersemester lagen im Gründungsbeirat die ersten Entwürfe für Studienordnungen aus den Lehramtsfächern vor. Die Grundidee, dass in Kassel Stufenlehrer:innen ausgebildet werden, gab das Ministerium vor. In Kassel sollten die Empfehlungen des Strukturplans des Deutschen Bildungsrates erstmals umgesetzt werden. Hessen war auf dem Weg, mit der Gesamtschule und der Gesamthochschule ein Bildungssystem aufzubauen, das nur noch nach vertikalen Stufen (Grundstufe, Mittelstufe, Oberstufe) statt nach Schulformen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) gegliedert sein würde. An der Gesamthochschule sollten die Lehrer:innen für das neue System, insbesondere für die integrierte Gesamtschule ausgebildet werden. Zentrale Überlegungen dieser künftigen Stufenlehrerausbildung wurden kurz vor Beginn des ersten Semesters im Herbst 1971 von der Gruppe der neu berufenen Professor:innen beraten.
Der Hintergrund ihrer Reformpläne waren neben Planungskonzepten wie dem Strukturplan des Bildungsrates vor allem die eigenen Erfahrungen in Studium und Berufstätigkeit, über die Beteiligte in Interviews berichten. Ob das fachwissenschaftliche Lehramtsstudium, welches Klaus Barner in Göttingen absolvierte, ob die monodisziplinäre Denkweise, die Hans-Manfred Bock in Marburg erlebte, oder die vorwiegend praktische Ausbildung, die Rudolf Messner an einer österreichischen Lehrerbildungsanstalt durchlief: In Kassel sollte es anders sein, wie sie in Interviewausschnitten berichten.
Gemäß der Idee der Gesamthochschule sollten bisher getrennte Wege der Lehrerbildung – die der Gymnasiallehrer:innen an der Universität, die aller anderen an pädagogischen Hochschulen – verbunden werden. Wissenschaftlichkeit und Praxisbezug galt es zu verbinden, Fachdisziplinen waren im Dienst der Sache zu überwinden. Grundlage des Kasseler Modells war die Überlegung, dass alle Lehrer:innen, egal in welcher Stufe sie unterrichten, eine zentrale gesellschaftliche Rolle haben, die sie in ihrer Ausbildung reflektieren sollen. So sah das Modell von Beginn an ein gleichwertiges Studium von acht Semestern aller künftigen Lehrer:innen vor. Dieses setzte sich zusammen aus zwei Fächern, in denen Fachwissenschaft und Fachdidaktik zu studieren waren, Schulpraktischen Studien und dem erziehungs- und gesellschaftswissenschaftlichen Kernstudium. Schon mit der 1973 vorgelegten Studienordnung sorgte das Kernstudium für Kontroversen: Bildungsarbeit als gesellschaftliche Praxis, Lehrer:innen, die für Demokratie und soziale Gerechtigkeit eintreten. Einigen waren diese Ansprüche zu politisch gefärbt, eine Kritik die neben dem Kernstudium auch den neuen Studiengang „Gesellschaftslehre“ traf. Die Kasseler Lehramtsausbildung sollte nämlich vor allem zu einer Reform des Unterrichts beitragen. Nicht nur mit wissenschaftlich fundierter fachdidaktischer Vorbildung, sondern mit modernen fachwissenschaftlichen Inhalten. Die Studienordnung der künftigen Fremdsprachenlehrer:innen stelle daher die moderne Sprache als Kommunikationsmittel sowie die gesellschaftlichen Realitäten des jeweiligen Landes in den Vordergrund und setzte dabei, ähnliche wie die Studienordnung der Gesellschaftslehre und des Kernstudiums, auf gegenstandsbezogene interdisziplinäre Kooperation.
Abseits der Lehrerbildung, in den Bereichen der Vorgängereinrichtungen war die Reformarbeit noch am Anfang. Modellversuche wurden eingerichtet und sogenannte Curriculumarbeitsgruppen zur Planung der integrierten Studiengänge eingesetzt. Auch hier mussten Wege zur Integration bisher getrennter Ausbildungsformen gefunden werden, wie Gründungspräsidentin Rüdiger in einem Radiointerview 1973 erzählte. Aus diesem Gespräch lässt sich zugleich erkennen, dass die konkrete Organisation einer integrierten Gesamthochschule noch immer in der Diskussion war.
Der Anfang war gemacht, die Reformarbeit ging aber langsam voran. Die noch wenigen Professor:innen waren überlastet mit Organisation und Lehre, es fehlte an wissenschaftlichen und administrativen Mitarbeiter:innen. Die Student:innen zogen demonstrierend durch die Stadt und forderten mehr Hochschullehrer:innen, um die gewünschte Kleingruppenarbeit in Projekten umzusetzen. Für Forschung blieb kaum Zeit, immerhin konnten 1973 die ersten Promotionen an der Gesamthochschule abgenommen werden.