1972

„Ein Experiment, das Zeit braucht“, so die Einschätzung einer Berichterstatterin in der Hessischen Allgemeinen am Ende des ersten Semesters der Gesamthochschule. Zwar gingen die Meinungen auseinander, derzeit seien aber mehr Plus- als Minuspunkte zu verbuchen. Die gute Ausstattung des AVZ mit modernem wissenschaftlichen und technischen Gerät sowie die neuen Inhalte und Arbeitsweisen im Studium der künftigen Lehrer:innen wurden gelobt, so etwas wie ein „Gesamthochschul-Bewusstsein“ sei schon zu verzeichnen. Die junge Hochschule begann sich im neuen Jahr zu organisieren. Den Anfang machten die Student:innen und sie bewiesen gleich, dass die Integration gelingen kann. Im Januar waren rund 2.900 Stimmberechtigte zur Wahl des Studentenparlaments aufgerufen. Unterschiede danach, wer aus dem Fachhochschulbereich kam oder wer aus dem universitären Bereich, wurden nicht gemacht. Die große Mehrzahl der Student:innen setzte alle Hoffnungen auf das Reformmodell Integrierte Gesamthochschule für einen Neubeginn in der Hochschulbildung, wie sie mit dem Abdruck des Aufsatzes „Zerschlagt die Universität“ des französischen Sozialphilosophen André Gorz zeigten. Aus den Wahlen zum 30-köpfigen Studentenparlament ging der Sozialdemokratische Hochschulbund als Sieger hervor und der stellte mit Karl-Heinz Heymer nach der Wahl des AStA auch den ersten AStA-Vorsitzenden.

Ohne Streit zwischen den Fraktionen kam das Studentenparlament im Verlauf des Jahres nicht aus, sie verabschiedeten aber ihre erste Satzung und stellten mit einer Vielzahl an Resolutionen ihren Anspruch auf Mitbestimmung in der Hochschule unter Beweis. Mitbestimmen wollten auch die neuberufenen Hochschullehrer:innen. Schon zum Ende des Vorjahres hatten sie eine Beteiligung am Gründungsbeirat gefordert. Nun entschied Kultusminister von Friedeburg, den bisherigen Gründungsbeirat, der in der Mehrheit aus Vertretern anderer hessischer Universitäten bestand, aufzulösen und ihn ausschließlich mit Vertreter:innen aus Kassel zu besetzen. Im April wurde eine Rechtsverordnung erlassen, die die vorläufige Organisation der Hochschule regelte. Der Gründungsbeirat erhielt den Status eines zentralen Gremiums der Hochschule, die Organisationseinheiten konnten ihre Konferenzen bilden. Damit war auch der Weg frei, um die Hochschule mit einer eigenen Leitung auszustatten. Bisher war der Wiesbadener Regierungsrat Horst Abels mit der Leitung der Zentralverwaltung beauftragt. Im Einvernehmen mit dem Gründungsbeirat ernannte der Kultusminister die bisherige Landtagsabgeordnete Dr. Vera Rüdiger zur Gründungspräsidentin. Die Tatsache, dass erstmals eine Frau das Präsidentenamt einer deutschen Hochschule innehatte, sorgte bundesweit für kuriose Schlagzeilen.

Begonnen wurde auch die Organisation der Kommunikation innerhalb der Hochschule. Flugblätter sollten an den acht Standorten der Hochschule die Zugehörigkeit zu dieser fördern. Sie verbreiteten unter anderem Informationen über das Projektstudium. Praxisorientiert, fächerübergreifend arbeitende Gruppen, die Lernziele und -inhalte weitgehend selbst formulieren, so sollte das Studium künftig nach dem Willen der Mehrheit der Student:innen und neuberufenen Professoren aussehen. Die Naturwissenschaftler hingegen wollten sich von Hörsaal und Tafel nicht trennen, was den Student:innen missfiel. Im Verlauf des Jahres wuchsen die Erwartungen, dass bald mehr Ergebnisse von der jungen Hochschule kommen, das Land mehr in die Hochschule investiert. Die Frage des künftigen Standortes der Hochschule war nur eine, die offen blieb. Die kurze Planungszeit der Hochschule, in der die zentralen Fragen nur beraten, aber nicht geklärt wurden, und die Defizite im Personalbestand erschwerten die Arbeit an der Reform.