1971

Es ist das Jahr der Eröffnung der ersten integrierten Gesamthochschule in der Bundesrepublik. Mit dem neuen Modell sollten alle Einrichtungen des tertiären Bildungsbereichs organisatorisch zusammengeführt und ein gemeinsames, binnendifferenziertes Studiengangsystem entwickelt werden.

In seiner Rede zur Eröffnung der Gesamthochschule Kassel am 25. Oktober 1971 beschrieb der hessische Kultusminister Ludwig von Friedeburg die mit dem Modell verbundenen Ziele. Mit der Integration bisher getrennter Universitäts- und Fachhochschulstudiengänge sollte vor allem Chancengleichheit im Zugang zum Studium realisiert werden. Optimale Übergangsmöglichkeiten zwischen Studienwegen und Studienstufen sollten die bestmögliche Entfaltung des Einzelnen und seiner Fähigkeiten sichern. Es galt, Studiengänge zu entwickeln, die auf wissenschaftlicher Grundlage basieren und zugleich die Notwendigkeiten des Berufsfeldes analysieren. Von Friedeburg verwies auf die Rekordzeit, mit der die Kasseler Neugründung im Vergleich zu anderen vollzogen wurde, und versuchte, möglicher Kritik entgegenzukommen. Um möglichst schnell die dringend benötigten zusätzlichen Studienplätze zu bekommen, sei ein wirkungsvolles, schnelles Planungsverfahren nötig gewesen.

Mit einem weiteren Gesetz wurde die Integration der in Kassel bereits bestehenden Einrichtungen vorbereitet. Am 1. August 1971 wurden neun bisher eigenständige Institutionen zur Fachhochschule Kassel zusammengeschlossen: die Staatliche Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektrotechnik, die Staatliche Ingenieurschule für Bauwesen, die Staatliche Höhere Wirtschaftsfachschule, das Pädagogische Fachinstitut, die Höhere Fachschule für Sozialpädagogik der Stadt Kassel in Fürstenhagen, die evangelische Fachschule für Sozialarbeit, die Deutsche Ingenieurschule für ausländische Landwirtschaft in Witzenhausen, die Ingenieurschule für Landbau in Witzenhausen sowie die Hochschule für bildende Künste, die selbst kurz zuvor mit der Staatlichen Werkkunstschule vereint wurde. Am 2. August wurde diese Fachhochschule dann formal in die Gesamthochschule Kassel integriert, ein Vorgang, der schon damals für Kritik sorgte, wie sich Prof. Dr. Klaus Barner in einem Interview erinnert.

Die Student:innen, denen bei der offiziellen Eröffnung der Gesamthochschule im Oktober keine Redezeit angeboten wurde, wiesen in einer schriftlichen Stellungnahme zu dieser Feierlichkeit auf die Schwachstellen der neuen Institution hin. Denn während die Presse das neue Reformmodell feierte, war die Integration bisher nicht mehr als ein Etikettenwechsel. An den veralteten Studiengängen in den Fachrichtungen der Vorgängereinrichtungen mit ihren rund 2.300 Student:innen hatte sich nichts verändert. Die Student:innen, die in diesen Fächern ihr Studium zum WS 1971/72 begannen, steuerten zunächst weiter nur auf einen Studienabschluss auf Fachhochschulniveau hin. Für ein Studiengangsystem, das es ihnen ermöglicht, durchlässig und flexibel ihre Neigung bis zu einem Diplom auf Universitätsniveau zu entfalten, gab es bisher nicht mehr als Konzepte mit unterschiedlichen Modellen. Die einzigen neuen Studiengänge, die des Lehramts, waren universitär ausgelegt. Dort hatten sich rund 380 Student:innen immatrikuliert. Weiter kritisierten die Student:innen den Mangel an neuen Hochschullehrer:innen und die schwierige Wohnsituation. Vor allem machten sie auf ihre unzureichenden Einflussmöglichkeiten in der Gründungsphase aufmerksam. Ein Gründungsbeirat, der lediglich Empfehlungen aussprechen konnte, die dann meist in veränderter Form vom Ministerium umgesetzt wurden, war für sie Scheindemokratie. Sie forderten für die neue Hochschule Gremien, die selbstbestimmt Entscheidungen treffen können, und dort sollten die Student:innen ein paritätisches Mitbestimmungsrecht haben.

Die bisher nicht vollzogene Integration prangerten ebenso die Fachhochschullehrer:innen an, die von den Vorgängereinrichtungen in die neue Hochschule übergeleitet wurden, ohne dass sich ihr Status änderte. Sie sahen sich weiter als die dritte Klasse der Hochschullehrer:innen.

Für die integrierte Gesamthochschule als Modell gab es kein Vorbild – Kassel sollte es werden. In der kurzen Planungszeit waren zwar vom Gründungsbeirat und der Projektgruppe einige Entwürfe und Pläne erarbeitet worden. Aber während der einjährigen Vorlaufzeit standen die praktischen Fragen, wie die Berufung der neuen Hochschullehrer:innen und der Bau des Aufbau- und Verfügungszentrums, im Vordergrund. So musste für die neu beginnende Lehrerbildung erst wenige Wochen vor Beginn des Semesters ein Konzept für die Studiengänge entworfen und das erste Semester von den neu berufenen Universitätsprofessor:innen erarbeitet werden, wie sich Prof. Dr. Wolf-Dietrich Schmied-Kowarzik in einem Interview erinnert. Er gehörte, wie auch Barner, zu jener Gruppe von 25 Hochschullehrer:innen, die 1971 neu an die GhK berufen wurden. Unter ihnen war lediglich eine Frau, eine Kritik, welche die Kasseler Schriftstellerin Christiane Brücker in einem Leserbrief in der Hessischen Allgemeinen äußerte.