1970
Nachdem im Herbst des Vorjahres sowohl in der hessischen Landesregierung als auch in der Regierungsfraktion im Landtag Einigkeit über die Gründung einer Gesamthochschule hergestellt werden konnte, gingen die nächsten Schritte schnell voran. Sie mussten und sollten auch schnell gehen.
1969 hatte der Bund ein Hochschulbauförderungsgesetz beschlossen, mit dem er sich künftig an den Baukosten von Hochschulen beteiligen wollte. Um zügig in dieses neue Gesetz aufgenommen zu werden, musste eine Hochschule formell gegründet sein und der Wissenschaftsrat den Maßnahmen zugestimmt haben. Zudem war die öffentliche Diskussion über den Hochschulausbau in vollem Gang, mehr Studienplätze und Absolvent:innen wurden dringend gebraucht.
Im Februar beschloss die Landesregierung bei ihrer Kabinettssitzung vor Ort die Gründung einer Gesamthochschule in Kassel. Die Presse würdigte es als Jahrhundertereignis. Das Kultusministerium ließ einen Rahmenplan erarbeiten, das Konzept fand die Zustimmung des Wissenschaftsrates und in seiner Sitzung am 18. Juni 1970 beschloss der Hessische Landtag das Gesetz zur Errichtung der Gesamthochschule. Für das noch junge Bundesland Hessen war es die erste Neugründung einer Hochschule. Und die sollte nicht nur ein Regionalprojekt zur Belebung Nordhessens sein, sondern das von allen Seiten als Mittel zur Reform des Hochschulwesens gepriesene Konzept in die Tat umsetzen. Kassel sollte Deutschlands erste integrierte Gesamthochschule bekommen und in der Reform des deutschen Hochschulwesens zum Modell avancieren.
Die Kernelemente dieses Modells waren: die Öffnung des Zugangs zur Hochschule (Fachhochschulreife oder Abitur), gestufte Studiengänge und Abschlüsse (vergleichbar mit dem damals nur im angelsächsischen Raum angewandten Bachelor-Master-System), integriert-differenzierte Studiengänge (Ermöglichung von Übergängen zwischen bisher getrennten Studiengängen an Fachhochschulen/Universitäten bzw. Pädagogischen Hochschulen/Universitäten bzw. die Zusammenführung bisher getrennter Studiengänge), flexiblere Ausbildungswege des Einzelnen, Projektstudium, integrierte Praxisphasen und Berufsfeldbezug.
Damit schon im Wintersemester 1971 der Lehrbetrieb starten konnte, musste es weiter schnell gehen. Zu diesem Zeitpunkt sollte nur die Lehrerbildung als neuer universitärer Studiengang beginnen. Der Aufbau in den Fächern, die über die Vorgängereinrichtungen in die Gesamthochschule integriert und für das Modell integrierter, gestufter Studiengänge als Verbindung von Universitäts- und Fachhochschulstudium entwickelt werden sollten, musste warten. Kultusminister von Friedeburg war es gelungen, den in Nordrhein-Westfalen mit der Planung künftiger Gesamthochschulen befassten Christoph Oehler als Leiter der Hochschulabteilung nach Wiesbaden abzuwerben.
Für den praktischen und konzeptionellen Aufbau der Hochschule brauchte es Entwürfe. Das Kultusministerium setzte dafür auf eine Doppelstruktur: Eine dem Ministerium angegliederte Projektgruppe, bestehend aus jungen Hochschulabsolvent:innen, sollte die Vorlagen für die Entscheidungen des Ministers liefern. Zugleich wurde ein Gründungsbeirat gebildet, der Empfehlungen erarbeiten sollte. Zusammengesetzt war er aus Vertreter:innen hessischer Universitäten, der in Kassel ansässigen Bildungseinrichtungen sowie je einem Vertreter der Stadt und des „Arbeitskreises Universität Kassel“. Die Entscheidungen wurden allesamt im Ministerium getroffen. Man wollte beweisen, dass nicht nur technokratische Gründungsverfahren schnell gehen können, sondern auch reformorientierte Neugründungen zügig startklar sind und sich nicht über Jahre hinziehen müssen wie im Falle Bremens.
Schnell sollte daher der Bau neuer Räume erfolgen, weshalb zunächst ein flexibel nutzbares Aufbau- und Verfügungszentrum errichtet wurde. Mit der Wahl des Grundstücks für dieses schnell zu konstruierende Gebäude machte das Ministerium auch seine Präferenz für einen Campus am Stadtrand klar. Mit und in der Stadt war die Frage des künftigen Standortes der Hochschule noch in der Diskussion.
Auch in Kassel begannen die bestehenden Bildungseinrichtungen, die in die Gesamthochschule eingegliedert werden sollten, Überlegungen zum Aufbau der Hochschule sowie zu ihrer eigenen Weiterentwicklung als Teil dieser neuen Einrichtung zu formulieren. So erhoffte sich die Kunsthochschule von der Integration in die Gesamthochschule einen befruchtenden interdisziplinären Austausch, der die disziplinäre Randstellung der Kunst(-wissenschaft) überwinden würde.