1960er

Die Geschichte einer Universität beginnt weder mit ihrer formellen Gründung noch mit der Eröffnung des Lehrbetriebs. Aber wann dann?

Im Falle Kassels keine einfach zu beantwortende Frage. Einer sehr kurzen Vorlaufphase der Errichtung der Gesamthochschule Kassel stehen weit zurückreichende historische Entwicklungen, die mit der heutigen Universität Kassel verbunden sind, gegenüber. So ließe sich eine Vorgeschichte der Universität im Jahr 1580 mit der Entstehung der hessischen Landesbibliothek durch Landgraf Wilhelm IV., im Jahr 1633 mit der 20 Jahre bestehenden ersten Universität Kassel, im Jahr 1777 mit der eigenständigen Gründung der „Académie de Peinture et de Sculpture de Cassel“, aus welcher die Kunsthochschule entstand, im Jahr 1832 mit der Eröffnung der polytechnischen „Königlichen Höheren Gewerbeschule“, mit der Einrichtung der deutschen Kolonialschule 1898 in Witzenhausen oder der Gründung weiterer tertiärer Bildungseinrichtungen in Kassel im frühen 20. Jahrhundert beginnen. Diese Vorgeschichte ist nicht Teil unserer Ausstellung, sie gehört aber zur Historie der Universität Kassel und wäre als quellenreicher Streifzug durch die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit eine eigene Ausstellung wert.

Die Gründungsphase der Gesamthochschule Kassel und ihr Vorlauf wurden von dem Historiker Jürgen Nautz in der Festschrift der Gesamthochschule Kassel 1996 ausführlich aufgearbeitet. Es seien daher nur die zentralen Entwicklungen genannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Nordhessen aufgrund der deutschen Teilung in einer strukturschwachen Randlage der neuen Bundesrepublik. Erstmals brachte der spätere Oberbürgermeister Karl Branner die Ansiedlung einer Universität in Kassel im Jahr 1958 ins Gespräch. Man erhoffte sich Impulse für die Wirtschaft und Anreize, damit hoch qualifizierte Arbeitskräfte in der Region bleiben. Wie in einem Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erwähnt, schien dieser Wunsch in der jungen Bundesrepublik auf absehbare Zeit nicht umsetzbar, insbesondere nicht in Hessen, das mit vier Universitäten im Bundesvergleich Spitzenreiter war. Nur waren diese, wie die Karte zeigt, ungleich verteilt. Und so liefen erste Initiativen der Stadt Kassel, die Gründung einer Universität anzuregen, ins Leere.

Doch die Lage veränderte sich schneller als gedacht. Bildung und Hochschulen wurden zum Topthema, die Bildungsreformphase begann. Internationale Vergleiche zeigten den Rückstand der Bundesrepublik in Bildungsfragen, umfassende Studien bescheinigten zahlreichen Landstrichen eine Unterversorgung mit Studienplätzen und Hochschulabsolvent:innen, darunter auch Nordhessen und dort insbesondere im technischen Bereich. Um eine wirtschaftsschädliche „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) zu verhindern und die Wahrnehmung des demokratischen Bürgerrechts auf Bildung (Ralf Dahrendorf) und Chancengleichheit zu gewährleisten, wurde nun von vielen Seiten ein massiver Ausbau des Bildungswesens gefordert. Die Student:innen protestierten gegen überfüllte Hörsäle und verkrustete Strukturen.

In Kassel erkannte man die Zeichen und ergriff in mehrfacher Hinsicht die Initiative. Die Stadtverwaltung intensivierte ihr Bemühen um eine Neugründung, gab ein Gutachten über die Eignung Kassels als Hochschulstandort in Auftrag und nahm Kontakt zum Wissenschaftsrat auf. Aus diesen Aktivitäten erkannte man, dass die Umsetzung nur gelingen würde, wenn man statt einer Universität eine Gesamthochschule einzurichten versucht. Diese sollte auf den in Kassel vorhandenen tertiären Bildungseinrichtungen aufbauen. Das Konzept der Gesamthochschule war 1968/69 in kurzer Zeit als mögliche Lösung aller Probleme des Hochschulwesens entstanden, es war noch hinreichend unkonkret, um verschiedene Zielsetzungen verbinden zu können. Die Zusammenfassung aller Einrichtungen des Hochschulbereichs (Universitäten, Fachhochschulen) mit einem binnendifferenzierten Studiengangssystem sollte die Chancengleichheit im Zugang zu Hochschuleinrichtungen, die Verkürzung von Studienzeiten und die flexiblere Gestaltung des Studiums ermöglichen.

Auch der im Februar 1969 als Bürgerverein gegründete „Arbeitskreis Universität Kassel“ sah, dass man mit der Forderung nach einer Gesamthochschule mehr Erfolg haben könnte, auch weil die Regierungserklärung der neuen sozialliberalen Koalition in Bonn eine Erweiterung der Hochschulkapazitäten und eine Strukturreform der Hochschulen durch das Modell der Gesamthochschule in Aussicht stellte. In gemeinsamer Abstimmung sicherten die Stadt und der Arbeitskreis die Unterstützung aller gesellschaftlichen und politischen Akteure Nordhessens für eine Neugründung in Kassel. In Wiesbaden reagierte die Landesregierung zunächst ablehnend, dann zögerlich. Sie sah sich noch immer mit dem Ausbau der bestehenden Universitäten gut beschäftigt. Erst mit der Umbildung der Regierung unter dem neuen Ministerpräsidenten Albert Osswald veränderte sich die Position des Landes entscheidend. Die Berufung des Frankfurter Soziologen Prof. Dr. Ludwig von Friedeburg zum Kultusminister läutete einen grundlegenden Wechsel in der Hochschulpolitik Hessens ein. Er machte endgültig klar, dass die Einrichtung einer Hochschule nur als Gesamthochschule, ohne die Barriere veralteter Strukturen, erfolgen solle. Nun nahm die Landesregierung die Sache in die Hand, auch weil der Landtagswahlkampf bevorstand und man sich bewusst war, dass die nordhessischen Wähler:innen von der in Wiesbaden regierenden Partei mehr Engagement erwarteten, wie der Brief einer Bürgerin zum Ausdruck bringt.